Das Wunder im Planetarium

3. Kapitel

Langsam glitten Stellas Finger über die glatte Spiegeloberfläche. Ihr Gesicht war verunziert, der Anschlag hatte Spuren hinterlassen. Weitaus schlimmer waren die unsichtbaren Wunden in ihr. Verrat. Immer von Menschen, denen sie vertraute. Zuerst ihr Ehemann. Dann ein Polizist. Hatte Thomas ihr nicht zugesichert, sie wäre im Hotel sicher? Natürlich konnte Thomas nicht ahnen, dass er ein Maulwurf in seinem Team hatte. Die Nachricht, er sei gefasst, beruhigte Stella keineswegs. War er der einzige? Wem hatte er Informationen preisgegeben? Sie schloss die Augen. Dachte an Jonas. Er hatte die Bombe platziert. Es war nicht seine Absicht gewesen irgendwen. zu verletzen. Wenn sie ihm auch misstraut hatte, nachdem sie wusste, wer er war, so hatte Jonas ihr immer geholfen. Zweimal riskierte er dabei alles. Sein Leben, seine Deckung. Aber er war auch ein Mörder. Halt, stopp. War es überhaupt Mord? Immerhin hatte dieser Mann versucht sie niederzustechen. Wäre Jonas nicht gewesen, dann. Stella wagte es nicht den Gedanken zu Ende zu führen. Am liebsten wäre Stella jetzt bei ihm. So absurd es war, sie fühlte sich sicher bei ihm. Von ihm kam kein Verrat. Aber wie konnte sie ihn treffen? Sie wusste, es war irrsinnig, aber sie fühlte sich in diesem Hotel nicht mehr sicher. Ihre Angst, dass ihr Ex Mann etwas Teuflisches ausheckte, war groß. Bestimmt wusste er bereits, wo sie war. Er hatte es immer wieder geschafft, sie aufzuspüren - Immer.

Ein Läuten riss sie aus ihren Gedanken. Sie ging erst ran, als sie den Namen des Kommissars auf dem Display sah.
»Hallo Stella. Sei ruhig, ich bin es Georg. Tu genau, was ich sage, sonst geschieht ein Unglück. Kein Wort zu Thomas oder Kim, verstanden!«
Kalter Schweiß drang aus Stellas Poren, mit klopfendem Herzen hörte sie zu, fragte sich, wie Georg an diese Nummer gekommen war.
»Begib dich zum zerstörten Planetarium. Heut Nacht. Fünf Minuten vor Zwölf. Wir werden dich abholen und du wirst ein Bekenntnis ablegen. Vor laufender Kamera, live im Netz. Dann lassen wir dich gehen und verraten dir, wo die Bomben platziert sind. Ein Wort zur Polizei und tausende Unschuldige sterben, willst du das?«
»Nein,« hörte Stella sich antworten, »ich werde kommen.«
Die SMS ist von Stella. »Hilfe - Georg hat mich vom Thomas Handy angerufen. Wo bist du?«

Ich zeige die SMS Sam, die sofort Thomas anruft.
»Ja,« meldet er sich.
»Gibts Probleme?«
»Nein, warum?« Thomas kraus geschlagene Stirnfalten sind deutlich herauszuhören.
»Georg Thomes benutzte dein Handy.«
»Unmöglich, das geb' ich nicht aus der Hand.«
»Stella ist panisch. Jonas ruft sie gerade an.«
»OK, kann ich in einer halben Stunde zurückrufen?«
»Ja, klar.«

Als Sam auflegt, nimmt Stella meinen Anruf an.

»Jonas hier,« melde ich mich, »geh in den Park gegenüber dem Café. Ich brauche zehn Minuten.«
»Danke, bin unterwegs.« Stella klingt angespannt, als ich auflege.

»Wie gut bist du im Autos kurzschließen, Sam?« Ich werfe ihr ihre Jacke zu.
»Ich bin Bulle,« antwortet sie vorwurfsvoll.
Ich zucke mit den Schultern. »Ja und?«
»Mein Rekord sind 30 Sekunden,« gibt sie auf dem Weg zur Tür zu.
»Willst du wissen wie es schneller geht?«
Ich nehme im Vorbeigehen meinen Laptop und folge Sam auf die Straße.

Fünf Minuten später sitzen wir in einer hochmodernen Limousine, die wir in der Nähe des Treffpunkts parken. Stella kommt gerade an. Es sieht so aus, als ob sie nicht verfolgt wird. Ich steige aus, gehe zu ihr. Ein erleichtertes Lächeln huscht über ihre Lippen. Ich umarme Stella kurz, wie es alte Freunde tun.
»Hab mich rausgeschlichen,« grüßt sie mich.
»Ich bin da, alles wird gut,« flüstere ich ihr ins Ohr.
Dann hake ich mich bei ihr unter und führe sie so gelassen wie möglich zum Auto. Während dem Gehen merke ich, wie sich Stella mit jedem Schritt entspannt. Beim Auto angekommen, steht Sam auf der Fahrerseite schon bereit. Stella und ich setzen uns hinten rein.

»Erzähl,« fordere ich Stella im Auto auf, »was ist passiert?«
Während Sam über Umwege zu unserem Versteck fährt erzählt Stella von Georgs Anruf und der Drohung mit den Bomben.

»Noch ein Maulwurf,« fragt Sam vom Fahrersitz aus.
»Scheint so,« gebe ich zurück, »muss allerdings nicht sein. Ein Handy lässt sich auch klonen. Dazu brauchst du nur die SIM-Kartennummer, ein wenig Technik. Wer ist in dieser Aktion noch involviert, Sam?«
»Nur wir drei, Kim, Thomas und der Chef. Alle anderen sind nach dem Vorfall im Hotel rausgeflogen. Rechnungen werden auf deinen Tipp hin alle nur noch bar bezahlt. Es gibt keine Unterlagen auf denen irgendein Name von uns oder der Abteilung steht.«
»Bleiben immer noch drei Verdächtige übrig, Sam.«
»Zwei,« protestiert Stella, »ich glaube nicht, dass Thomas mich reinlegen würde!«
»Wir sind jetzt da, Jonas.« Sam fährt auf das Gelände der alten Fabrik.
Wie besprochen steigen Stella und Sam aus und gehen zur versteckten Hütte. Ich setze mich auf den Fahrersitz, starte den Wagen. Sams Telefon klingelt. Wir brauchen dringend eine Strategie. Bis zum großen Showdown sind es gerade mal vierzehn Stunden.
Kim nippte an ihrem erkalteten Kaffee. Vierzehn Stunden, um eine Strategie auszubauen. Hoffentlich fiel dem alten Fuchs etwas ein. Immer wieder ging Kim die Landkarte durch. Was könnten mögliche Angriffsziele sein? Auf einer Eingebung hin, schickte sie Sam eine verschlüsselte Nachricht.
»Du Flittchen. Ich weiß jetzt, was du treibst. Dein Lover soll mich anrufen.«
Sam würde sofort Jonas Bescheid geben, dass Kim mit ihm reden musste. Wer, außer Stella, kannte Georg besser? Jonas, natürlich. Er hatte für ihn gearbeitet. Georg war der organisierte Typ. Er würde nicht von Gewohnheiten abweichen. Er brauchte Kontrolle. Das war der Grund, der neben seiner Brutalität zur Scheidung führte.

»Kim, wir haben ein Problem. Ich fürchte, ich ahne, wo eine der Bomben ist. Im Planetarium.«
Thomas betrat das Büro, hielt sein neues iPhone hoch. Auf dem Display war der Artikel über das Wunder im Planetarium.
»Wie kommst du auf den Gedanken? Das ist eine halbe Ruine, Menschen werden da kaum in Massen vorkommen.«
Thomas schüttelte den Kopf.
»Es geht ihm nicht um viele Tote. Es geht ihm um den wahren Glauben. Ihm passt es nicht, dass Stella überlebt hat. Dieses Wunder entlarvt ihn als Übeltäter. Darum wollte der Guru Stella, als Beweis entführen, dass Georg falsch handelt. Wenn Stella an gleicher Stelle getötet wird, dann ist das ein Zeichen, dass Stella nicht durch Gott gerettet wurde, sondern vom Teufel.«
»Du meinst, es gibt keine Bomben?«
»Nein, aber die Erste ist sicher im Planetarium. Die zweite wird wahrscheinlich die Armee treffen, Georg ist vom Krieg gezeichnet worden. Und dann habe ich das hier: Dancing Church. Eine Kirche wurde zur Diskothek umgebaut, Eröffnung ist heute.«
Kim erblasste. Hoffentlich wusste Jonas, um welche Bomben es sich handelte. Denn er würde Stella begleiten, sie wollte es nicht anders.
»Stella, du und Sam bleibt im Auto,« mit geweiteten Augen sieht sie Jonas an, als er ihr aufträgt zu bleiben, »ich kann nicht sagen, was dort drüben auf mich wartet.« Jonas steigt aus dem Wagen und geht über die Straße und dann durch den Seiteneingang der Kirche direkt ins Büro.
»Hallo,« grüßt er Manfred Bodinski, den Manager der Dancing Church, der gerade über einem Stapel Rechnungen sitzt und auf einer Rechenmaschine herumhackt.
»Jonas, was machst du hier?«
»Einen alten Kameraden das Leben retten. Ich hab nicht vergessen, dass ich es dir noch schulde.«
»Was redest du?« Manfred zuckt zuerst ratlos mit den Schultern, steht dann auf und umarmt Jonas.
»Dir wurde eine Bombe unter den Hintern gepflanzt.«
»Von wem?« Manfred schenkt aus einer Bar in seinem Büro zwei Drinks ein.
»Georg ist, so wie es aussieht, auf Rachetour.« Mit einer kurzen Handbewegung lehnt Jonas ab.
»Die Finanzierung läuft über andere. Der weiß doch gar nicht, dass ich hier bin.«
»Oh doch! Lass uns lieber das Ding suchen.«
Widerwillig geht Manfred zur Tür. »Fangen wir im Keller an, da würde ich eine Bombe als erstes platzieren.«
»Ok Manfred, Lager und Heizungskeller zuerst?«

Sam und Stella werden unruhig.
»Wo bleibt er nur, Sam?«
»Keine Ahnung,« Sam schaut auf ihre Uhr, »er ist schon eine geschlagene Stunde in dem Laden.«
Stella wechselt nervös den Radiosender, als Sams Handy klingelt.
Sie nimmt ab, »Jonas?«
»Fahrt los, zwei Blocks in Richtung Planetarium,« seine oberflächlich ruhige Stimme wird von einem Hauch Panik überlagert. »Wartet nicht auf mich und macht, dass ihr von hier fortkommt!«
»Ok,« sagt Sam, legt auf und startet den Wagen.
Stella schaut Sam verdutzt an.
»Das war Jonas,« beantwortet Sam ihre nicht gestellte Frage, »er will, dass wir von hier verschwinden.«
»Dann sollten wir das auch tun.«
Sam fährt los und parkt sie zwei Blocks weiter, wie es abgesprochen ist. Mit dem Ersterben des Motors hören beide einen ohrenbetäubenden Knall.

Dann Stille.

Sam&aposs Handy klingelt. Beide zucken zusammen.
»Ich lebe noch,« meldet sich Jonas, »und bin auf dem Weg zu euch.«
Sperrbänder flatterten im Wind, mit Graffiti besprühte Palisaden verdeckten den Platz des Wunders. Langsam und betend schlich sich der Guru dahinter, sah die Zerstörung. Vom Hauptgebäude war Schutt und Asche übriggeblieben. Unter diesem Trümmerhaufen hatte Stella überlebt. Wenn er die Stelle begutachtete, war dies undenkbar. Sie müsste tot sein. Seine Augen wurden feucht. In dieser dunklen Stunde hatte Gott sich gezeigt, dieser Frau Rettung gesandt. Georg irrte sich. Gewalt war nicht die Lösung.
»Schick mir bitte ein Zeichen. Ich war von Judas umgeben, manche Jünger haben mich betrogen. Schick mir den, dem ich trauen kann, der den Leuten deine Wahrheit offenbaren wird.«
Der Guru sank auf die Knie, wartete. In Gedanken sah er wieder die Waffe vor sich. Das hatte ihn nicht erschüttert, auch nicht die unangenehmen Fragen. Aber der Verrat von Simon und Andreas. Beide waren ihm engste Vertraute gewesen, waren sehr fromm und doch wurden sie vom Teufel, etwas anderes konnte für ihn Georg nicht sein, verführt. Stille betrat die Szene, kein Schornsteinfeger erschien, nicht mal eine leise Stimme sprach zu ihm. Was machte er falsch? Stella war ein Engel geschickt worden, wieso? Was war besonders an ihr? Er schloss die Augen, dachte mit seiner verqueren Logik nach.
»Ich weiß es nun. Vergib mir meine Fehler. Ich war blind, traute jedem, der behauptete, er sei gläubig. Ich habe mich nicht in Frage gestellt und das hat Satan genutzt.«
Bei diesen Worten bekreuzigte er sich, kniete zu Boden, senkte den Blick in Demut.
»Ich tue Buße von allem, bitte um Verzeihung für das Leid, dass ich Stella brachte.«
Licht durchriss die Finsternis. Der Guru blickte auf. Ein Wagen fuhr die Straße zum Planetarium hin, parkte etwas abseits. Der Guru erschrak, als er die Frau erkannte, die ihn mit einer Waffe bedroht hatte. Sollte er verschwinden? Nein, das war eine Prüfung, er würde sie bestehen. Er glitt hinter einer Palisade, wartete, als die Beifahrertür aufging. Das Herz des Gurus machte einen Sprung. Es war wie eine Antwort auf seinem Gebet. Stella war gekommen. Ja, natürlich, sie war rein, deshalb die Rettung. Er ging auf sie zu. Vielleicht ließ sie mit sich reden. Fragte sich nur, wie er ihre Begleiterin loswerden konnte.
Nachdem ich Stella und Sam sagte, was im Keller der Bar passiert war, schickte ich sie zur Fabrik. Ich will sie aus der Schusslinie haben. Hoffentlich halten sich die beiden auch daran.

»Geht's Manni?« Blut rinnt aus Manfred's Ohr. Sein Gang ist unrund - er schwankt, wie ein alter Dampfer in schwerer See.
»Sprich lauter, Jonny, es klingelt in meinen Ohren!«
Er versucht, sein altes Alles-in-Ordnung-Grinsen aufzusetzen, was ihm gründlich misslingt.
»Hast du den Zünder erkannt?«
»Ja, Manni,« es gibt nur einen, dem ich meine Entwürfe zeigte. »Georg hat meine Ideen geklaut. Bin echt gespant auf seine Erklärung.«
Wir schweigen, bis wir am Tor der Kaserne sind.
»Lass mich reden, der OvD ist ein alter Kamerad von mir.« Manfred kannte schon immer Gott und die Welt. Er geht direkt auf die Wache zu und verlangt den diensthabenden Offizier zu sprechen. Es dauert keine zwei Minuten, dann kommt er und begrüßt Manfred per Handschlag. Sie reden kurz, ohne das ich etwas verstehen kann, dann winkt mich Manfred zu sich.

»Sven - Jonas, Jonas - Sven« stellt mich Manfred vor, »er war ein halbes Jahr nach uns dort. Du weißt schon.« Ich nicke kurz als Zeichen, verstanden zu haben.
»War Georg Thomes die letzten Tage hier?«
»Mir liegt keine Meldung darüber vor,« gibt Sven erstaunlich redselig zu, »aber wir hatten einen Einbruch in der Waffenkammer. Das ist zwei Tage her. Es wurde nichts geklaut, das hat uns schon gewundert.«
»Dann sollten wir uns das Arsenal mal anschauen.«
Sven zögert, schaut Manfred an, dann mich und wieder zu Manfred. Er scheint zu merken, wie ernst es uns ist. »Folgt mir!«

Der Soldat in der Ausgabe wirkt irritiert, als sein Kommandeur mit zwei Fremden in die Waffenkammer eintritt.
»Laut Überwachungsvideo war der Einbrecher dort hinten,« Sven zeigt zu einem großen Stahlschrank am Ende des Raumes. Ich gehe hin und schaue mir die Stelle genauer an.
»Was ist in dem Schrank und welche Räume befinden sich hinter dieser Wand,« will ich von ihm wissen.
Ich höre seinen Erklärungen gar nicht richtig zu. Zwei Regale weiter weckt ein kaum sichtbares grünes Blinken auf grün lackierten Handgranaten mein Interesse.
»Ich hab sie gefunden!«
Als Manfred und Sven meinem auf die Bombe zeigenden Finger folgen, werden sie weiß wie die Wand.
Sam erstarrte in ihrer Bewegung. Etwas stimmte nicht. Prüfend blickte sie um sich, deutete Stella, sich zurück in den Wagen zu setzten. Es war ruhig.
»Zu ruhig«, schoss es Sam durch den Kopf.
Hinter der Palisade band der Guru das Seil, mit dem seine Kutte zusammengebunden war los. Er wollte kein Blutbad. So ganz ohne Gewalt würde es aber nicht gehen. Die Beifahrerin musste fort. Irgendwie.
»Herr, vergib mir für meine Tat.«
Mit diesen Worten schlich er sich hinter dem Wagen herum, hob zum Schlag aus, als Sam abrupt mit gezogener Waffe herumwirbelte. In ihren Augen war Ruhe, keine Überraschung. Der Guru schlug zu. Es fiel ein Schuss. Sich die Hand am Arm haltend, sackte der Religionslehrer zu Boden. Warmes Blut quoll aus der Wunde.
»Warum, oh Herr?«
»Straftaten führen nie zum Guten, Herr …«
»Ich habe keinen weltlichen Namen mehr.«
Sam kickte die Eisenstange zur Seite, steckte die Waffe ein. In schnellen Bewegungen hatte sie ihren Gegner mit Handschellen gefesselt. Von ihm hatte sie nichts mehr zu befürchten. Er war verletzt und gebrochen.

Im Dunkeln beobachtete Georg still das Geschehen. Perfekter konnte es nicht sein. Sam war mit dem Anhänger des Teufels beschäftigt und Stella saß im Wagen. Bald würden sie alle drei sterben. Nur noch ein paar Minuten. Gott meinte es gut mit ihm. Es würde nicht nur das falsche Wunder sterben, sondern auch der heuchlerische Lehrer. Obendrein würde die Explosion eine Vertreterin der satanischen Gesellschaft, die für Recht und Ordnung im Namen der Reichen und Machthaber ausübte, wegblasen. Georg war zufrieden. Seine Falle schnappte zu. Höhnisch grinsend zog er sich leise zurück. Er durfte nicht bleiben. Von Fern wäre der Feuerball gut zu beobachten. Unterdessen sah Stella auf die Uhr. Fast Mitternacht. Wo blieb Georg? Und was war mit Jonas? Langsam schob sich der Zähler nach vorne, sowohl auf Stellas Armbanduhr, als auch auf der Uhr, die mit einer Bombe in einer Kühltasche versteckt war. Es schlug fünf vor zwölf.
Nachdem ich die Bombe im Munitionslager fand, brach die große Hektik in der Kaserne aus. Da ich nichts weiter ausrichten kann, breche ich mit Manni auf. Die Kombination aus brennender Lunte und Sprengstoff ist für meinen Geschmack zuviel für heute. Einmal am Tag reicht! Auf dem Weg hinaus bricht mein Kamerad aus alten Tagen zusammen.
»Jonny, geh und halte den Mistkerl auf, bevor er noch mehr Unheil anrichtet,« sind seine letzten Worte, bevor er ohnmächtig wird. Sanitäter eilen heran und kümmern sich um ihn. Aus der Ferne grüße ich im Gehen Sven, der die Munitionskammer leeren lässt und dabei selbst an vorderster Front fest anpackt.

Im Auto erkenne ich Georgs Plan. Die Kneipe und die Kaserne sind nur Ablenkung für sein wahres Ziel. Stella und der Guru loswerden und ganz nebenbei eine Gruppe von hörigen Söldnern aufbauen. Ich nehme mein Handy und klingel Sam an. Sie nimmt sofort ab.
»Er ist bei euch,« rede ich los, ohne ihren Gruß abzuwarten.
»Ich hab ihn, keine Angst, es ist alles unter Kontrolle,« antwortet sie.
»Du hast Georg gefasst?« Hoffnung keimt auf.
»Wieso Georg? Den Guru!«
»Sam, nimm dir Stella und geh in Deckung. Georg muss bei euch sein. Bin unterwegs.«
Mit quietschenden Reifen und qualmendem Motor halte ich vor den Ruinen des Planetariums. Wenn er da ist, hat er mich gehört. Vielleicht verschafft es Sam und Stella ein paar Sekunden mehr Zeit, um abzuhauen.

Ich schnappe mir zwei Extramagazine aus meinem Versteck unter dem Fahrersitz und gehe mit der Waffe im Anschlag auf die Ruine zu. Georg ist keiner, der auf offenem Feld kämpft. Er suchte sich immer enge, verwinkelte Gänge und schießt aus dem Hinterhalt. Jetzt muss ich nur noch den Richtigen finden. Gegen den Uhrzeigersinn durchkämme ich Ring für Ring die Überreste des Gebäudes. Wie eine Zwiebel, die Schicht für Schicht gepellt wird. Irgendwo muss er sein.

»Pst, hier sind wir,« flüstert Sam aus ihrem Versteck.
Mit Handzeichen gebe ich ihr zu verstehen, dass sich beide aus dem Staub machen sollen. Sam geht vor. Kaum ist Stella aufgestanden, fällt ein Schuss. Knapp über ihr bröckelt Putz von der Wand. Er will, dass ich es aus nächster Nähe sehe. Doch damit verriet er auch seine eigene Position. Ich ahne schon die Richtung, da fällt ein zweiter Schuss und streift meine Schulter.
Stella drückte sich flach zu Boden. Zwei Schüsse. War Jonas getroffen? Ihr Herz raste. Neben ihr klickte es. Sam zielte in die Richtung, aus der die Schüsse gefallen waren. Das musste Georgs Position sein. Der Guru beobachtete aus dem Auto das Geschehen. In allem hatte er versagt. Warum nur war er der Versuchung, die ihm offensichtlich der Teufel gebracht hatte, erlegen? Nun starben Leute. Er konnte noch alles wenden. Während er ein kurzes Gebet sprach, indem er um Vergebung bat, zog er die Schuhe aus. Mit seinem nackten Fuß öffnete er die Wagentür. Er stieg aus und marschierte auf die Ruinen zu. Ein weiter Schuss fiel, traf ihn in der Brust. Tödlich getroffen sackte der Guru zusammen. Aber das reichte für Sam, um selbst zu feuern. Georg fluchte innerlich. Die Kugel hatte knapp über seinen Kopf geschwirrt. Hastig warf er einen Blick auf seine Uhr. Noch eine halbe Minute. Er robbte zurück.

Unterdessen erblickte Stella ein Licht auf der Treppe, wo sie das erste Mal getroffen wurde.
»Vater?«
»Flieht.«
Er deutete mit seinem Feger auf eine Kühltasche. Stella erstarrte. Auch Sam. Ohne groß weiter nachzudenken, richtete sich Sam auf, schob Stella vor sich und eilte zum Wagen, als ein neuer Schuss Sams rechte Schulter traf.
»Fliehen Sie, Stella.«
In dem Moment ertönte ein lauter Knall. Schwarzer Qualm stieg auf, eine Feuerwand traf die beiden. Dann war alles dunkel, die Sirenen des Wagens schrillten durch die Nacht. Georg lächelte. Sein Ziel hatte er erreicht. Blieb nur noch dieser Verräter namens Jonas. Aber das würde nicht mehr lange dauern. Er hatte soeben alles verloren.
»Das ging wohl daneben, Georg«, Blut rinnt aus meinem rechten Ohr, »was hast du vor?«
Schweigen - als ob ich keiner Antwort würdig wäre.
»Ich weiß, wo du steckst!«, zwei ehemalige Zimmer weiter rieselt Putz von der Decke, die sich teilweise an einer Wand anlehnt. Das könnte er sein. Ich nehme einen Stein und werfe ihn in die Richtung. Als er klackend aufschlägt bewegt sich fast unmerklich ein Schatten. Sam und Stella sind hinter mir - hoffentlich. Ich ziele auf die Stelle, an der sich der Schatten bewegte und drücke ab. Der Schatten duckt sich. Hab' ich dich endlich, denk ich mir, als mir die Antwort in Form von Kugeln entgegenkommt.
»Das mit dem Guru kann ich verstehen«, versuch ich weiter mein Glück bei Georg, »aber warum Stella?«
Ein Martinshorn kommt näher. Der Klang verrät mir, dass es ein Streifenwagen ist. Türen gehen auf und werden zugeschlagen. Eine bessere Position suchend gehe ich geduckt hinter den Fragmenten einer Zimmertür und einigen Schränken entlang. Kommissar Fuchs brüllt ein paar Kommandos. Sam ist am Fluchen, dann höre ich, dass sie Stella suchen.
Vorsichtig gehe ich auf Georgs letzte Position zu. Meter für Meter, Stein für Stein arbeite ich mich voran. Ich versuche, so leise wie möglich zu sein. Weitere Sirenen kommen in Hörweite. Dieses Mal sind es zwei Rettungs- und vier Streifenwagen. Das Planetarium ist umstellt.
Neben mir spannt sich der Hahn einer Pistole. Langsam drehe ich mich herum und sehe Georg, der seine Waffe auf mich richtet.
»Hat dir schon mal einer gesagt, dass du alt wirst?«, fragt Georg mit einem fiesen Grinsen im Gesicht.
»Heut noch nicht, wieso?«
Ich stehe meinem Widersacher gegenüber und kann nicht begreifen, wieso er sich so verändern konnte. In einem anderen Leben beschützten wir uns gegenseitig. Es war Krieg, auch wenn keiner ihn so nennen durfte. Wir versuchten, in einem Land zu helfen, in dem Viele keine Hilfe wollten. Nun stehen wir hier, jeder auf seiner Seite der Front.
»Leg sie hin«, befiehlt er und deutet auf meine Pistole.
Ich lege sie vor meinen Füßen ab.
»Du widerst mich an«, platzt es aus mir heraus, als ich mich wieder aufrichte, »früher konnte man sich auf dein Wort verlassen, und heute?«
Die Adern an Georgs Stirn fangen an zu pulsieren. Er wird wütend, das ist zumindest teilweise gut. Mein Gewicht nach rechts verlagernd nähere ich mich einem weiteren Deckenfragment, das mich abschirmen könnte.
»Lass das!«, faucht Georg und nähert sich mir dabei einen Schritt zu viel.
Ruckartig weiche ich nach links aus. Er schießt - verfehlt mich nur knapp. Ein Fausthieb in seine Nieren lässt ihn aufschreien. Dann fällt noch ein Schuss. Georg bricht vor mir zusammen. Langsam gleitet ihm seine Waffe aus der Hand. Ich bremse seinen Sturz.
»Wir waren wie Brüder, Georg.«
»Red' kein Stuss und geh endlich!« Blut rinnt aus seinem Mundwinkel.
»Er hat Recht Jonas.« Kommissar Fuchs kommt auf uns zu. Seine Pistole ist auf Georg gerichtet. Als er sieht, dass keine Gefahr droht, steckt er ihn in seinen Holster. »Sie sollten jetzt gehen, bevor ich Sie noch verhaften muss.«
Stella schlug die Augen auf. Stille umhüllte sie wie ein Schleier, glänzendes Licht leuchtete um sie herum. Wo war Sam? Sie richtete sich auf. Wachte oder träumte sie? Vom Planetarium war nur Helligkeit übrig. Neben ihr hockte eine vertraute Gestalt.
»Vater? Was ist los?«
»Du bist bewusstlos. Sam hat es überlebt. Unten geht das Gefecht weiter. Wenn du erwachst, wird Kim neben dir sein. Ich muss jetzt gehen, du brauchst mich nicht mehr.«
Er drückte Stella gegen sich und löste sich auf.

»Stella, wachen Sie auf.«
Kim kontrollierte Puls und Atmung. Erleichtert stellte sie fest, dass sie lebte. Sofort brachte sie sie in die stabile Seitenlage. Im Hintergrund sah sie Jonas stehen. Er konnte fliehen. Aber er blieb. Wartete.
»Sie ist nur ohnmächtig.«
Jonas fiel nicht auf ihre Lüge herein. Wie viel musste ihm Stella bedeuten, dass er trotz wachsender Zahl an Polizisten blieb? Stöhnend wachte die junge Frau auf. Kim strich über ihre Wange: Als sie wieder hochsah, war Jonas verschwunden. Thomas kam mit zwei Sanitäter zu ihr. Er zog sie beiseite.
»Es ist vorbei. Morgen verhaften wir Jonas. Er ist uns entkommen.«
Kim antwortete nicht. Sie hätte ihn schnappen können. Aber Stella hatte Priorität gehabt. Sie ging zu Sam, die gerade verarztet wurde.
»Ist nur ein Streifschuss. Wo ist Frau Tramontin?«
»Auf der Treppe, da wo … .«
Kim wand sich verwirrt um. Wie war Stella dorthin gekommen? Genau auf der Stelle, wo sie das erste Mal getroffen wurde? Hatte sie nicht neben Sam gestanden? Vielleicht gab es doch mehr zwischen Himmel und Erde, als Kim bereit war, zu glauben. Sie ging zu dem Rettungswagen, wo Stella hineingeschoben wurde.
»Wo ist Jonas?«
»Fort, Frau Tramontin.«
Stella lächelte.
Mit letzter Kraft schaffe ich den Weg zu Karl. In Erwartung, gleich verhaftet zu werden, klingle ich. Ich höre Schritte, die eine Holztreppe herunterkommen und dann, wie die Abdeckung vom Türspion auf der Innenseite kratzt. Entgegen meiner sonstigen Gewohnheit bleibe ich direkt vor der Tür stehen. Nach einer gefühlten Ewigkeit geht sie auf.
»Du siehst ziemlich ramponiert aus,« werde ich begrüßt.
»Ich war einer Kugel und einem Haus im Weg,« ich versuche ein Lächeln, »das kriegst du doch wieder hin, oder?«
»Bist du allein, Jonas?«
Ich schau mich nochmal um und nicke.
»Komm rein, bevor du mir die Schwelle versaust.«

Karl bringt mich in einen großen voll ausgebauten Kellerraum mit einer Werkbank, einer kleinen Dusche, einem Sofa und einem kleinen Fernseher.
»Ich flick dich zusammen,« beginnt er, als wir unten sind, »du kannst die Nacht bleiben, aber morgen früh musst du vor Sonnenaufgang verschwunden sein.«
»Geht klar.«
»Nicht was du denkst,« lenkt Karl ein, »ich bin seit einem Monaten verlobt. Sie weiß nichts von Georg und dir. Morgen kommt sie von einem Kongress zurück.«
Aus einer Schublade der Werkbank holt er einen alten Verbandskasten heraus.
»Hattest du den nicht schon an der Front?,« frage ich.
»Ja. Es gibt Dinge, die sich nie ändern.«
Während ich mein Hemd ausziehe, füllt Karl eine Schüssel mit warmen Wasser. Der Hemdsärmel meiner angeschossenen Schulter ist rot vom Blut.
»Hast du noch Kontakt mit den Kameraden?«
»Georg war vor Kurzem da. Sonst lässt sich niemand mehr von früher blicken.« Routiniert reinigt Karl meinen Streifschuss und legt einen Verband an. »Hast inzwischen 'ne ganze Menge abbekommen, Jonas.«
»Deshalb steige ich auch aus.«
Karl geht zu einem Sack mit Altkleidern, nimmt ein Hemd heraus und wirft es mir zu.
»Ist gewaschen. Falls dir die Farbe nicht gefällt, kannst du dir auch ein anderes nehmen.« Er geht zur Tür. »Ich muss jetzt hoch gehen. Bring dir später noch etwas zum Essen. Schön, dich wieder mal zu sehen.«
»Georg wird nicht mehr kommen, Karl.«
»Dann kann ich den alten Verbandskasten ja endlich entsorgen.«
»Ja, das kannst du.«
In Gedanken verloren rührte Stella in ihrem Eisbecher, starrte immer wieder die Straße herab. Hier, an diesem Tisch hatte Jonas sich zu ihr gesetzt, sie trotz ihrer Verletzungen normal behandelt. Aber er hatte auch gelogen ,über seine Vergangenheit, seine Tätigkeit und vor allem über das, was er getan hatte. Trotz alledem hatte er sie beschützt. Warum? Immer wieder hatte Stella sich diese Frage gestellt. Viel Zeit, um mit ihm zu reden hatte sie nie gehabt. Selbst Sam, die zeitweise mit ihm gearbeitet hatte, wusste nicht viel. Außerdem schwieg sie über diese Mission. Sam, Kim und Kommissar Fuchs hatte Stella letztens im Gerichtssaal gesehen. Die übrigen Jünger bekamen ihren Prozess.

»Darf ich mich zu Ihnen setzen?«
Thomas Fuchs riss Stella aus ihren Gedanken. Sie nickte. Der Kommissar bestellte zwei Cappuccinos.
»Schön zu sehen, dass Sie sich wieder nach draußen trauen.«
»Der Therapeut ist sehr gut. Gibt es etwas Neues?«
»Wir warten noch auf das Urteil.«
»Viel werden die nicht kriegen. Die Schlimmsten sind tot.«
»Ja, ich weiß. Die Hetzparolen lenken von Terrorismus und der Geldwäsche ab. Das sind keine Kavaliersdelikte. Die SEK ist auf Jonas Fersen. Er hat sich nicht bei Ihnen gemeldet?«
»Nein. So dumm ist er nicht!«
»Machen Sie sich darauf gefasst, dass eine Untersuchung läuft. Er hat schließlich die erste Bombe platziert und einen Menschen ermordet.«
»Hätte er es nicht getan, säße ich nicht hier.«
»Ich weiß. Trotzdem rechtfertigt es nicht seine Tat.«
»Aber sein Handeln hat vielen Unschuldigen das Leben gerettet. Er dürfte eine Strafmilderung bekommen.«
»Genau. Hier ist die Karte eines renommierten Anwalts, Frau Tramontin. Sollte er sich melden…«
»Das wird er nicht.«
Dabei blickte Stella hoffnungsvoll die Straße herunter…

Epilog

Ich bin nervös. Seit ein paar Monaten verstecke ich mich oder treibe mich im Ausland herum. Zwischendrin konnte ich wenigstens einiges gerade rücken. Heute ist der Tag der Entscheidung.
»Na komm schon,« höre ich Sam von der anderen Seite des Vorhangs, »wir sind spät dran.«
»Was drängelst du nur so?,« will Stella wissen.
»Wirst schon sehen.«
Sam kommt zuerst in das Séparée vom Café am Park. Sie umarmt mich sofort. Als Stella uns sieht, verstummt sie erst, dann verfinstert sich ihr Gesicht.
»Wo warst du nur die letzten drei Monate?« Ihr Schubser zeigt mir, dass dieser Vorwurf nicht so ernst gemeint ist, wie er klingen soll. Sie drängt Sam sanft weg und umarmt mich auch.
»Unterwegs, Wunden lecken und ein paar Dinge regeln,« wir setzen uns, »das ist jetzt aber nicht wichtig. Wie geht es dir?«
»Stell dir vor, die Polizei hat mich eingestellt. Nächste Woche fange ich im Archiv an zu arbeiten.«
»Und wie geht es DIR?«
»Alles in Ordnung, Jonas. Ich konnte mich von meinem Vater verabschieden. Das gab mir viel Kraft.«
»Die hattest du schon früher« Stella wurde unruhig.
Ein kleiner Tritt unter dem Tisch von Sam bestätigt mir, dass ich jetzt aufhören sollte sie zu bedrängen. Kurz bevor das Schweigen unangenehm wurde, fragte Stella, »Sam erwähnte etwas von einem Plan, der so geheim ist, dass sie selbst nicht weiß, wie der aussieht.«
»Na Sam, noch immer keine Ahnung?,« frage ich.
»Doch, aber du hast mich bisher nicht gefragt.«
Stella schaut uns ungläubig an. »Was geht hier denn ab?«
»Vor einer Stunde bekam ich ein Angebot als Bodyguard, Stella. Dafür muss ich allerdings die nächsten drei Jahr ins Ausland. Es ist für mich die Change zum Neuanfang und Sam, ich könnte eine Partnerin gebrauchen, kommst du mit mir?«

Epi-Epilog

Es wird Zeit sich wieder zu melden. Meine SMS ist kurz.
»Hallo Stella, wir sind zurück und möchten dich gerne im Café wie abgesprochen treffen. Wann hast du Zeit?
Es gibt auch eine kleine Überraschung.«
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