Das Wunder im Planetarium

2. Kapitel

»Ihr habt mich hergebeten, Meister?«
»Ja, Andreas. Du bist der treueste Diener, dein Glaube ist rein und stark. Dir kann ich vertrauen. Ich möchte dich mit einer Aufgabe betrauen. Es geht um den Beweis von Gottes Existenz und darum, dass Georg ein vom Teufel verführter Bruder war. Gott verabscheut jede Gewalt, niemand hat das Recht in seinem Namen, zu töten.«
Petrus schob eine Zeitung über den hölzernen Tisch. Auf der Titelseite prangte in fetten Lettern:
»Überlebende aus dem Planetarium spurlos verschwunden. Die Polizei schließt ein Gewaltverbrechen nicht aus.«
Verwirrt starrte Andreas den Guru der »Bruderschaft des reinen Christentums« an.
»Suche sie und bringe sie her. Ihr wurde ein Wunder zuteil, der Herr meint es gut mit ihr. Sie kann unsere auf Irrwege geführten Brüder zurückführen.«
»Meister, ich verstehe nicht.«
»Sie hat den Akt der sinnlosen Gewalt überlebt, ein Engel wurde ihr gesandt. Ein deutliches Zeichen dafür, dass Gott gegen das Morden ist.«
»Aber wie? Sie ist verschwunden, Georgs Männer haben sie.«
Petrus schüttelte den Kopf und legte eine Code Karte auf dem Tisch.
»Gott hat mir im Traum die Wahrheit offenbart. Dieser Artikel ist Lug und Trug von der Polizei, um sie in Sicherheit zu bringen. Sie ist in einem schlichten Hotel untergebracht worden, mit dieser Karte kommst du zu ihr. Überlege wohl, wie du sie fortholst, ich möchte keine Bluttat. Zwei Polizisten überwachen sie, um Mitternacht ist Schichtwechsel. Ein guter Moment, um einzugreifen.«
Andreas wendete die Karte in alle Richtungen, nickte höflich und verließ den Raum.

Draußen warf er die Kapuze seiner Kutte zurück und zuckte ein Handy heraus. Rasch tippte er eine SMS ein.
»HABE ZIEL ERFASST. Ich werde die vom Teufel erretteten, vernichten.«
Er drückte auf Senden, ein 'Daumen hoch' kam zurück. Georg war mit der Mission einverstanden. Bald würde der wahre Glauben siegen und dieser schwache Andreas, der göttliches nicht mehr von teuflischem zu unterscheiden wusste, würde abdanken müssen. Wenn nicht …
Wir sitzen in einem Café. Sam nippt an ihrem Latte Macchiato, während ich ihr die Regeln erkläre.
»Hier ist dein Handy«, ich überreiche es ihr, »ist nicht das modernste, aber es funktioniert. Meine Nummer ist eingespeichert. Komm' nicht auf die Idee, sie deinem Chef zu übermitteln - sie kann sowieso nicht zurückverfolgt werden.«
»Verstanden.«
»Was ist mit meiner Waffe, Jonas?«
»Wenn es nötig wird, bekommst du eine von mir.«
»Mit Geschichte oder ohne?«
»Ohne natürlich!«
»Wann geht es weiter?«
»Noch etwa drei Minuten und unser Ziel kommt von selbst.«
»Welches Ziel?«
»Er hat die Bombe vom Planetarium bezahlt.«
»Woher …«
»Frag' nicht. Antworten bekommst du, versprochen, aber nicht jetzt.«
Mein Handy piepst. Vorsorglich aktivierte ich einen Annäherungsalarm mit dem Handy des Kühltaschenkunden. Ich kann ihn jetzt sehen. Wie jeden Nachmittag geht er den gleichen Weg zum Tempel.
»Sam, komm' jetzt. Ich frage, du hältst dich zurück.«
Ich lege zur Rechnung reichlich Trinkgeld bei und gebe der Bedienung ein Zeichen. Wir folgen der Zielperson bis kurz vor einer Durchfahrt. Sam und ich haken uns seitlich bei ihm ein und führen ihn ins Abseits.
»Ich hab' doch bezahlt, wie sie es wollten!«, er klingt verzweifelt.
»Ich weiß«, versuche ich ihn zu beruhigen, »es gibt nur noch etwas zu Besprechen.« Während ich ihn befrage, durchsucht ihn Sam.
»Was denn jetzt noch?«
»Wer hat Tim geschickt?«
»Weiß ich nicht!«
»Wie war das mit den Geboten?«, ich hole mein Messer heraus und halte es ihm an die Seite. Sam wirkt erschrocken, reißt sich jedoch zusammen.
»Ich werde …«
»ANTWORTEN«, zische ich ihn an, »und zwar sofort!«
»Frag' Petrus«, gibt er kleinlaut nach, »der sollte es wissen.«
»Geht doch«, ich klopfe ihm versöhnlich auf die Schulter, »wo finden wir ihn?«
»Im Tempel, wo sonst?«
»Hat er auch einen richtigen Namen?«, mischt sich Sam ein, während sie seinen Ausweis einsteckt. Sie deutet meinen Blick richtig.
»Der innere Kreis ist nach den zwölf Aposteln benannt. Keiner kennt die richtigen Namen der Apostel.«
»Dann wirst du ihn uns zeigen.«
Unruhig wälzte sich Stella in ihrem Bett hin und her. An Schlaf war nicht zu denken, zu viel war geschehen. Unentwegt musste sie an Georg, ihren Ex-Mann denken. Wo war er gerade und was hegte er aus? Wie passte Jonas in dieses Bild? Er wollte sie beschützen, war bereit dafür über Leichen zu gehen. Warum wollte er ihr helfen? Sie begriff es nicht. Was er mit ihrem Angreifer angestellt hatte, wollte sie erst gar nicht wissen. Ob Sam mit ihm zurechtkam? War sie überhaupt sicher in diesem Hotel? Stella wagte, es zu bezweifeln. Georg hatte sie schon einmal aufgespürt. Er hatte sie terrorisiert, bis sie sie dann eine neue Identität annahm und in eine andere Stadt zog. Sie wähnte sich in Sicherheit und nun das. Der Anschlag, die Verfolgung. Ging es wirklich um mehr, als um ihre kleine Person? Wie war aus dem Mann, der sie einst auf Händen trug, ihr jeden Sonntag Rosen schenkte, so ein Monster geworden?

Ein kalter Luftzug brachte Stella zurück in das Hotelzimmer. Warum war das Fenster auf? Stella konnte sich nicht erinnern, es geöffnet zu haben. Genervt ging sie hin, als aus dem Schatten eine ihr wohl bekannte Gestalt sie hinter dem Vorhang zog. Träumte oder wachte sie?
»Vater?«
Er drückte sie fest gegen sich, als ein lauter Knall fiel. Erschrocken drehte sich Stella um und starrte fassungslos auf einen Kapuzenmann, der auf dem Boden lag. Neben ihm war eine Waffe. Thomas Fuchs steckte seine Dienstwaffe ein und setzte den Unbekannten fest.
»Alles in Ordnung mit Ihnen?«
»Wie kam er herein?«, stammelte Stella.
»Er hat den Ersatzpolizisten lahmgelegt, als er seinen Kollegen abgelöst hatte. Wie er in das Zimmer gekommen ist, wird sich zeigen.«
»Wieso sind Sie zu dieser Zeit gekommen?«
Thomas sah sie mit einem seltsamen Blick an.
»Sie haben mich um Hilfe gerufen mit dem Prepaid Handy, das ich Ihnen zur Verfügung stellte. Ein Glück, dass sie hinter dem Vorhang standen, sonst hätte er sie im Bett erschossen.«
Unterdessen durchsuchte Kim den Täter und zog eine Code Karte heraus. Verdutzt und fassungslos starrte Thomas seine Kollegin an.
»Wir haben einen Maulwurf.«
Der Tempel ist ein altes Herrenhaus aus dem 16. Jahrhundert und liegt am Stadtrand. Ein endloser Garten mit einigen uralten Bäumen auf einer langläufigen Wiese, umsäumt ihn, wie auch eine mit Zinnen bewehrte Mauer aus alten Ziegelsteinen. Teile der Mauer fehlen und sind durch einen drei Meter hohen Doppelstab-Gitterzaun ersetzt worden.

Der Guru sitzt auf der Terrasse des Hauses auf einer bequemen Bank. Um ihn herum fünf seiner Jünger.
»Rechts vom Meister sitzt Bartholomäus«, Holger Winter ist sehr gesprächig, seit ich ihm das Messer an die Rippen hielt, »er ist vernarrt in Wolken. Meint, darin die Zukunft sehen zu können. Der blonde Hüne neben ihm ist Simon. Seine Hände sind voller Schwielen und er kennt sich mit der Holzverarbeitung gut aus.«
Während unser Informant die Namen der anwesenden Apostel nennt, fotografiert Sam jeden einzelnen.
»Der nächste, der so leger in seinem Stuhl sitzt, ist Thomas. Und dann kommen Matthäus und Phillippus. Die beiden sind gut befreundet und müssen sich auch privat kennen.«
»Hast du alle, Sam?«
»Bis auf Matthäus, ja«, antwortet sie.
»Gib die Bilder bitte weiter, wenn du ihn hast.«
»Wo gehen die Bilder hin, Jonas?«
»Das willst du nicht wissen, Holger.« Sein Handy summt. Er liest die Nachricht, runzelt kurz die Stirn und sagt, »Sie rufen mich. Andreas, einer der Apostel, ist heute Morgen nicht wie abgesprochen in den Tempel gekommen. Ich muss jetzt gehen, sonst fällt es auf.«
»Warte noch fünf Minuten Zeit«, lenke ich ein, »bedenke, dass du aus der Stadt kommst.«
»Wieso wirst du wegen einem abwesenden Apostel in den Tempel gerufen?«, fragt Sam im nebenläufigen Ton.
»Ich bin der Schatzmeister.«
»So wie Judas Ischariot - du bist einer der Apostel!«, Sam's Kamera klickt ein weiteres Mal, »Matthäus ist jetzt im Kasten. Der Kreis schließt sich ein weiteres Mal, Holger.«
Gedankenverloren rührte Thomas in seinem längst erkalteten Kaffee, sein Blick haftete auf dem Foto des Mannes, den er letzte Nacht erschossen hatte. Er hatte eine Codekarte dabeigehabt, war unbemerkt an den Wachen vorbeigekommen und hatte genau gewusst, wann er zuschlagen konnte. Beim Schichtwechsel, der Moment, in dem die Ablösung rasch in Kenntnis der letzten Ereignisse gesetzt wurde und noch nicht voll im Dienst war. Aber wie konnte ein einzelner Mann, zwei trainierte Polizisten überwältigen? Waren es zwei Täter gewesen? Ein Maulwurf war im Team und wie er es auch drehte, es konnte nur einer sein, der Teil von Stellas Schutzprogramm war. Niemand sonst war im Bilde, darauf hatte er höchstpersönlich geachtet. Verdächtig wurden somit Kim, acht Streifenpolizisten, inklusive der beiden, die niedergeschlagen wurden, sein Vorgesetzter und natürlich drei Leute aus der Staatsanwaltschaft. Sam schloss er aus. Sie wusste nicht, wo Stella war, denn diesem Jonas traute er nicht über den Weg. So hatte Sam, sollte ihr etwas zustoßen und sie genötigt sein würde zu reden, nicht alle Informationen. Es klopfte an der Tür und Christian Hoffmann, der Leichtverletzte der beiden Polizisten trat in Uniform herein.
»Guten Morgen, Kommissar Fuchs. Dem Alex geht es auch besser. Er wird morgen entlassen.«
»Freut mich zu hören, Chris. Du solltest heute ruhen. Ich habe dich nur wegen der Zeugenaussage, zu gestern Nacht zu mir gebeten.«
Chris machte eine wegwerfende Handbewegung.
»So schlimm ist es nicht. Immerhin konnte Frau Tramontin gerettet werden. Und draußen sind viele Leute, die auf uns zählen.«
Typisch Chris. Er war immer als Erster zur Stelle und war in sechs Dienstjahre nur drei Mal krankgeschrieben. Thomas musterte ihn, sein Profil passte nicht recht zu einem Maulwurf, er war dafür zu engagiert. Chris machte seinen Job mit Leib und Seele, außerdem war auch er niedergeschlagen worden. Trotzdem durfte er ihn nicht ausklammern. Sein Handy piepste. Er warf einen flüchtigen Blick darauf.
»Alles Gute zum Geburtstag.«
Darunter eine Katze, die Küsse zuwarf. Im Anhang, Fotos.
»Danke, Sam.«, sagte Thomas innerlich.
Seit zwei Stunden ist Judas im Tempel. Bisher gibt es kein Zeichen von ihm. Sam und ich stehen immer noch an der Grundstücksmauer und warten.
»Ich hoffe, dass Judas sein Mund halten kann.« Sams Stimme ist kaum zu verstehen, weil sie an ihren Fingern kaut.
»Nervös?«
»Klar, hast du noch nie die Bibel gelesen?«
»Wir können ja rein gehen und Judas beschatten,« ich hoffe, dass sie nicht auf diesen Vorschlag eingehen wird. Etwas Stichelei wird sie hoffentlich davon abhalten, sich die eigenen Finger abzubeißen.
»Bin dabei,« sagt sie und steig aus.
»Warte!«, leicht geschockt gehe ich ihr hinterher, »bist du von Sinnen?«
»Ich muss wissen, was da drin vorgeht!«
Rennend hole ich Sam ein, halte sie an der Schulter fest und drehe sie zu mir. »Wird euch in der Polizeischule keine Geduld gelehrt?« Sie kräuselt die Stirn. Ich werte es als Ja, aber … . »Er wird schon kommen, Sam.«
»Und wenn er uns verraten hat?«
»Dann finden wir eine andere Lösung.«
Ein Tor, keine fünfzig Meter von uns entfernt, öffnet sich mit einem herzerweichenden Quietschen. Zum Glück ist eine Nische gleich hinter Sam. Ich drücke sie hinein und hoffe, dass wir nicht gesehen wurden. Ein Mann geht aus dem Grundstück. Er ist Mitte Dreißig, dunkelhaarig, mittlere Größe und sportlich. Sam lunzt um die Ecke der Nische.
»Den kenn ich vom Revier«, sie wirkt verdutzt, zückt ihr Handy und macht ein Foto von ihm, »das ist Chris unser Musterpolizist. Was hat der hier zu suchen?«
»Schwarzes Bilsenkraut?«
Mit immer größer werdendem Staunen und wachsender Besorgnis las Kommissar Fuchs den Autopsie Bericht. Der alte Mann, den Stella versucht hatte zu retten, war an einer Vergiftung gestorben, nicht wie Anfangs vermutet, an einem Herzstillstand. Dem Notarzt war es gleich nicht koscher vorgekommen, die Symptome hatten nicht ganz gepasst. Herzrhythmusstörungen, Unruhe, passten, aber die Hautrötung war anormal. Thomas rührte in seinem Kaffee, dachte nach. Wie passte dieser alte Mann ins Bild? Er hatte Stella in den Dosenstapel geschubst. Warum? Und wer war er überhaupt? Er hatte keinen Ausweis bei sich getragen und niemand schien ihn zu kennen. Das einzige, das man in seiner Tasche fand, waren Zigaretten zum Selbstdrehen.

»Thomas, wo bist du in deinen Gedanken?«
Er fuhr zusammen, starrte zu Kim, die mit einem dicken Pflanzenbuch vor seinem Büro stand. Sie legte den Wälzer nieder und tippte mit dem Finger auf das Bild des Bilsenkrauts.
»Ich habe mich eingelesen. Es wächst an Wegrändern und Mauern. Also leicht zu finden. Die Blätter sind in Mengen über 0,5g giftig. Es ist bekannt als Rauschmittel und Hexensalbenzutat.«
»Hexensalbenzutat? Interessant.«
»Wieso?«
»Als Gift ist es nicht gerade üblich. Meistens haben wir es mit einem Arsenikum zu tun. Wer das getan hat, kannte sich in Kräuterkunde aus. Mehr noch, diese Waffe passt nicht zu diesen Gläubigern. Ein Hexenmittel zu nutzen, wäre eine Todsünde. Ich muss mit Sam in Kontakt treten, schnell.«
»Du denkst doch nicht, dass …«
»Doch. Es ist gut möglich. Dieser Unbekannte hatte es auf Stella abgesehen, Jonas will sie schützen und …«
In dem Moment piepste Thomas Handy. Er warf einen Blick auf das Display. Eine Bildnachricht von seiner Geliebten.
Er öffnete die Datei und erstarrte. Das durfte nicht wahr sein. Ausgerechnet ihn.
Chris der Musterpolizist steigt vor dem Tempel der Bruderschaft in sein Auto. Sam und ich folgen ihm in sicherem Abstand.
»Was meinst du Jonas, zu wem geht er?«
»Nach Hause, wohin sonst?«
»Glaub ich nicht.« Ihre Denkfalte zwischen den Augenbrauen tritt deutlich hervor. Obwohl wir uns nur kurz kennen, weiß ich, dass noch etwas folgen sollte.
»Spuck es aus, ich sehe doch, dass dir ein Satz auf der Zunge liegt, Sam.«
»Noch letztes Jahr hätte ich dir zugestimmt,« ihr zögern macht mich neugierig, »seit dem Herbst ist er jedoch anders.«
»Was meinst du mit anders?«
»Als ob ihm seine Frau durchgebrannt ist und er es sich nicht eingestehen will.«
»Solltest Profiler werden, Sam.«
»Und du bremsen,« ihr rechtes Bein geht auf die nicht vorhandene Beifahrerbremse. »Was sucht der hier, Jonas? Er wohnt auf der anderen Seite der Stadt.«
»Und Georg wohnt direkt um die Ecke.«
»Du meinst doch nicht etwa Georg Thomes?«
»Genau den!« Ich parke den Wagen auf dem Grünstreifen. »Komm schnell!«
Wir steigen aus und gehen zügig zu Chris Wagen. Ich deute zu Sam, dass sie hinter Chris einsteigen soll und gehe selbst zur Fahrertür. Chris ist noch angeschnallt und liegt mit verschränkten Armen auf dem Lenkrad, die Scheibe neben ihm ist heruntergelassen. Er hat uns nicht bemerkt. Sam und ich checken kurz die Umgebung, dann steigt sie ein, während ich mich vor die Fahrertür stelle und mit der flachen Hand leicht auf das Dach schlage. Chris schreckt auf, will aussteigen. Ich drücke die Tür wieder zu.
»Was soll das,« protestiert er.
»Hast du hier 'ne Freundin?,« beginnt Sam.
»Oder etwa einen Freund?, hake ich nach, ohne auf eine Antwort zu warten.
»Das geht euch einen …«
»Wir sahen dich im Tempel,« Sams Verachtung ist deutlich herauszuhören, »du bist der Maulwurf.«
Chris Mund geh auf und zu, ohne dass ein Wort herauskommt. Sam reicht mir ihre Handschellen.
»Aussteigen und Hände auf das Dach,« befehle ich ihm.
»Klingt fast echt,« neckt mich Sam. Dann packe ich ihn auf den Rücksitz neben Sam, die auf die Beifahrerseite rüber rutscht und setze mich selbst ans Steuer.
»Und jetzt, Sam,« fragt Chris.
»Bringen wir dich zur Arbeit, Kollege.«
Langsam glitten Stellas Finger über das Bild des Schornsteinfegers. Tränen liefen ihre Wangen entlang. Damals, als ihr Vater noch lebte, war die Welt noch in Ordnung. Sein Verlust hatte geschmerzt, tief war das Loch, in das Stella gefallen war. Zögernd zog Stella ein anderes Foto aus ihrer Tasche. Vergilbt und blass.
»Georg, damals warst du mein Retter. Warum hast du dich verwandelt?«
Das Bild blieb stumm. Ein lauter Knall ließ Stella hochfahren, sich in Sekundenschnelle unter das Bett verkriechen. Sofort trat ein Schutzpolizist herein.
»Alles in Ordnung, Frau Tramontin. Nur ein Auspuff.« Stella atmete erleichtert auf. Jeder Lärm rief Schutzreaktionen aus. So wie bei Georg. Er war so anders, als er vom Krieg zurückkam. Brutal, wirr. Der Mann, den sie einst zu lieben wusste, wurde zur Bedrohung. Sie hatte fliehen müssen. Aber die Vergangenheit holte sie ein. Nun war sie wieder auf der Flucht. Ihr Schicksal lag in der Hand eines Auftragskillers, zweier Polizistinnen und einem alten Kommissar.

Hatte ihr Mann wirklich sie umbringen wollen? Oder war da mehr? Irgendetwas entging ihr. Wieso war sie eine Bedrohung? Und für wen? Ging es womöglich nicht schlicht um Rache? Stella nestelte an ihrem Pulli. Georg war brutal. Er konnte zuschlagen und ja, er hatte Ruhe in dieser Sekte gefunden. Aber das hatte ihm nicht gereicht. Er wollte Taten, nicht nur leere Predigten. Konnte sein Hass ausgeufert sein? Würde er tatsächlich das Leben anderer Menschen opfern? Sie blickte auf die Medaille. Das war die Antwort. Ja. Er war Soldat, töten gehörte zu seinem Beruf. Auch wenn es Regeln gab, so war das das Perverse am Krieg. Töten war erlaubt, sofern es keinen Zivilen und Wehrlosen traf. Und es musste der Mission dienen. Erlaubtes Töten. So konträr zu Liebe im Glauben. Wieso hatte Georg die Sekte korrumpiert? Was ging in ihm vor? Seit er schwerverletzt aus dem Krieg zurück kam, wusste Stella es nicht mehr. Einst war sie fähig seine Sätze zu beenden, heute war er ein bedrohlicher Fremder. Wo würde das alles enden?
Nachdem ich Sam und Chris am Revier abgelieferte fuhr ich zum alten Firmengelände. Im hinteren Teil des Geländes steht eine verlassene Gartenlaube, die von einem riesigen Brombeerenstrauch umschlossen ist. Ab und zu genehmige ich mir hier eine Auszeit vom Job, grille ein paar Steaks und trink dazu ein Bier, oder zwei. So wie jetzt.

Schritte nähern sich. Reflexartig greife ich nach meiner Pistole.
»Sieht richtig gemütlich aus!« Sam kommt seelenruhig um die Hecke.
»Du bist spät dran, Sam,« entspannt stecke ich meine Waffe in das Holster.
»Dafür gibt es viel zu erzählen.«
»Mich interessiert nur, wer Stella ans Leder will. Der Rest ist euer Problem.«
»Kommt noch jemand?« Sie zeigt auf das Bier, dass ich in eine mit Eis gefüllte Wanne stellte. Dann nimmt sie zwei Flaschen heraus, öffnet eine mit der anderen und legt die geschlossene zurück ins kalte Wasser.
»Nein Sam,« ich lege ihr ein Steak auf einen Teller, »erzähl lieber, was dein Kollege so alles verbockt hat.«
Sam nimmt den Teller und setzte sich an einen kleinen Tisch, den ich gedeckt zuvor hatte. »Chris sagte, er hatte den Befehl vom Guru. Ich glaube ihm jedoch nicht.«
»Warum?«
»Seine Körpersprache sagte etwas anderes, Jonas.«
»Und jetzt?«
»Thomas will, dass wir das checken.«
»Aber erst morgen. Heute bin ich viel zu betrunken für so eine Aktion.«
»Chris sagte auch, dass du für Georg Thomes arbeitest, stimmt das?«
»Ja, warum?«
»Was ist mit dem Supermarktleiter passiert?«
»Das war ein Auftrag zum Schutz von Stella.«
»Vertraust du mir nicht?«
Das ist eine gute Frage. Wie kann ich jemandem vertrauen, den ich erst seit wenigen Tagen kenne?
»Das Wehr südlich vom Stadthafen, ihr werdet Taucher brauchen. Ich weiß, dass es Thomas missfallen wird.«
»Und der alte Mann?«
»Mach mal halb lang!« Ich bedauere schon, dass ich Sam zum Grillen einlud. »Es gibt Regeln in meinem Gewerbe.«
»Jonas, du wirst von Chris beschuldigt. Ich brauche Gewissheit, wenn wir morgen in den Tempel gehen wollen.«
»Der Alte geht auf ein anderes Konto,« ich packe Sam ein weiteres Steak auf ihren Teller, »iss, bevor es kalt wird.«
Sie versteht, was ich meine, lächelt mich kopfschüttelnd an, »hast du keinen Kartoffelsalat?«
»Damit mich das Fett von der Mayonnaise langsam umbringen kann?«
»Kenne Schlimmeres, Jonas,« sie nimmt einen großen Schluck aus ihrer Flasche, »zum Beispiel Lakritzkonfekt oder Tauchen.«
Nachdenklich stand Thomas auf der Brücke. Die Bergungsaktion des Toten dauerte. Wer er war, war nicht bekannt. Kim hatte einen anonymen Anruf bekommen, wo der Ort benannt wurde und eine merkwürdige Beobachtung folgte. Eigenartigerweise ließ sich der Anruf nicht zurückverfolgen. Das Piepsen seines Handys riss ihn aus seinen Gedanken. Eine Nachricht seiner Geliebten.

»Morgen geht es zur Hochzeit. Handy wird abgeschaltet, nicht, dass mir während der Zeremonie das Ding läutet. Melde mich nach den Feierlichkeiten. Grüße von deiner Liebsten.«
Thomas schluckte. Das bedeutete nichts Gutes. Sam begab sich in feindliches Terrain. Ohne Deckung. Nur mit diesem Jonas, dem Thomas nur halbwegs traute. Immerhin war er ein Auftragskiller.
»Thomas, die Leiche ist geborgen, sie wird in die Pathologie gefahren. Sie ist schon stark angegriffen, der liegt seit Tagen im Wasser. Die Todesursache ist vermutlich ein Kopfschlag.«, erklärte der Pathologe.
Thomas trat zur Leiche und erschrak. Trotz des Zustandes erkannte er Tim, den Ladenbesitzer.
'Verflucht,' dachte er, 'dieser Mord hängt mit Stella zusammen.' Was war ihm zugestoßen? War er tot, weil er brisante Informationen besaß? Oder gab es einen anderen Grund? Thomas musste an den Anruf denken. Professionell durchgeführt. Kein Indiz auf den Anrufer. Das war ein Profi. Er seufzte, eine ungute Ahnung beschlich ihn. Er griff nach seinem Handy und tippte eine Nachricht, die er an Sam sendete. Womöglich, aber das war nur ein Verdacht, war Jonas Tims Mörder. Der Kommissar wusste, dass er seinem Instinkt trauen konnte. Ebenso Sam. Sie wusste, was sie tat. Sie war integer. Aber da war Chris, der Musterpolizist, in ihm hatte er sich schwer getäuscht. Konnte Sam fallen? War sie schon zu lange mit Jonas? Oder wusste sie nichts davon? Fragen über Fragen. Doch das war nicht vorrangig. ER brauchte dringend das Resultat der Obduktion. Bis dahin hieß es warten, Vermutungen waren keine Hilfe. Hoffentlich war Sam sicher. So sicher es auf ihrer Mission möglich war.
Der Morgen dämmert vor sich hin. Das diffuse Licht zeichnet die Konturen im Garten des Tempels weicher. Nachdem Sam und ich gestern den Maulwurf Chris im Revier ablieferten, gönnten wir uns erst eine kurze Auszeit. Abends war mir im Tempel zu viel los, deshalb entschied ich, am frühen Morgen einzusteigen.
»Bist du dir sicher, dass hier keine Alarmanlagen sind,« fragte mich Sam zum wer weiß wievielten Mal.
»Es gibt eine, aber die ist immer ausgeschaltet,« Sams Blick verdunkelt sich, »mach dich locker.«
»Wieso will ich gerade nicht wissen, woher du das weißt?«
»Weil du als einzige auf der Welt meine Arbeitsweise kennst.«
Mit einem Handzeichen deute ich eine Regenrinne hinauf, die neben einem großen Balkon entlang läuft.
Mit den Worten »Ladies First« gab ich ihr zu wissen, dass sie vorgehen soll. Sam nimmt die Einladung an und geht geschmeidig die Wand hinauf. Die Balkontür ist gekippt. Ich greife zur inneren Klinke, drehe sie, bis ich einen Widerstand spüre und öffne dann mit einem Ruck in der Klinke die Tür. Sams Augenbrauen gehen wortlos hoch.
Wir schleichen einem Schnarchen folgend zum Schlafzimmer, die Waffe im Anschlag. Als wir ankommen, sehen wir den Guru schlafend in einem runden Bett, in dem unzählige Kuscheltiere liegen. Wir gehen ins Zimmer und schließen die Tür hinter uns. Sam sichert mich in der T-Stellung und nickt zum Zeichen, dass sie bereit ist.
»Wachen Sie auf, wir müssen reden,« spreche ich den Schlafenden an. Es dauert eine Weile, bis er sich aufrappelt. Selbst als die Waffen in sein Blickfeld kommen, bleibt er gelassen.
»Ich hätte eher die Polizei erwartet,« antwortet er.
»Lässt sich einrichten,« sagt Sam.
»Wir wollen nur ein paar Antworten.«
»Dann legen Sie die Waffen weg und lassen uns reden.«
»Warum wollten Sie Stella Tramontin ermorden lassen?,« komme ich ohne Umschweife zum Thema.
»Wer behauptet denn so etwas?«
»Erst in der Wohnung und dann im Hotel. Mit dem Planetarium sind das drei Mordversuche,« bohrt Sam nach.
»Das mit dem Planetarium war ein Versehen. Von den anderen beiden Versuchen weiß ich nichts. Ich schickte meine Apostel Thomas und Andreas zum Schutz. Von Mord war nie die Rede.«
Seine Gestik sprach Bände. Ich senkte meine Waffe, denn ich wusste, dass er die Wahrheit sagt.
»Dann haben Sie ein ernsthaftes Problem. Wie heißen Thomas und Andreas wirklich,« fragte ich.
»Thomas ist Filialleiter in einem Supermarkt und heißt Tim Becker. Andreas ist ein Sicherheitsmann, sein Nachname ist Kovac. Er sollte Stella im Hotel bewachen. Dafür besorgten wir ein Zimmer neben das von Stella. Was ist mit beiden geschehen?«
»Die schmoren jetzt in der Hölle, wo sie hingehören.«
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